Wenn es um Musik geht, hören sechs Ohren immer besser als zwei. Auf dem MELT! FESTIVAL in der Ferropolis bei Gräfenhainichen gilt das in besonderem Maße auch noch für die Augen und so haben wir uns in diesem Jahr dazu entschlossen, den Festival-Bericht als Kollaboration zweier freundschaftlich verbundener Online-Magazine zu präsentieren. Wir stellen vor: Steffen von fomp.de, Christian von purerock.de und die freie Autorin Mara.
Einen Tag Wach
Während Steffen und Mara mit einer größeren Truppe bereits am Donnerstag aufgebrochen sind, erreicht Christian das Melt!-Gelände erst am Freitagnachmittag von Berlin aus. Der erste Eindruck bestätigt: alles wie immer. Doch am Parkplatz führt dann eine SMS von Steffen zu ersten Irritationen: “In der Nähe unseres Zeltes ragt ein Riesen Dildo in die Luft. Sieht man vom Weg aus auf jeden Fall.“ - Oh Gott, Ballermann für Brillenträger? Doch eigentlich ist dann alles halb so schlimm. Aufgestylte New Rave Kids feiern nun mal ihren Sommer. Auf dem Weg zu den Zelten ziehen Karawanen von Neonfarbenklamottenleggingstragenden Gestalten in Richtung Duschen, an denen sie sich entscheiden müssen, ob sie Männlein oder Weiblein sind. New Rave is the new Emo-Youth. Und nie war das Melt! so durchgestylt.
Viel mehr als die modische Reizüberflutung macht uns das prall gefüllte Line-Up zu schaffen. Viele interessante Acts überschneiden sich und so stehen wir bereits am frühen Freitagabend vor dem Problem: Lightspeed Champion oder Dúné? Dank zu spät verbreiteter Aufbruchsstimmung am Zeltplatz, unkalkulierbarer Gruppendynamik und einem mittelschweren Chaos bei der Bändchenvergabe erledigt sich das Dilemma von alleine. Wir erreichen durch einen Power-Spurt gerade noch so die nahe am Eingang gelegene Gemini Stage, um die letzten zehn Minuten von Dúné zu sehen – und die sind mehr als beeindruckend. Was die sieben Dänen um Blondlöckchen Matthias Kolstrup mit Keyboards und Gitarren zusammen zaubern, ist extrem tanzbar und ansteckend. Auf Platte teilweise vielleicht etwas unterkühlt, können Dúné mit ihrem druckvollen Indie-Electro-Rock-Gemisch auf der Bühne richtig einheizen. Das ABC der Live-Performance hat man trotz des sehr jungen Durchschnittsalters bereits verinnerlicht – dramatischer Kniefall und abschließende Verbeugung inklusive. Das ist großes Entertainment.
Weiter geht es auf der Hauptbühne mit Blood Red Shoes, die dieses Jahr mit Box Of Secrets debütierten. Auf den ersten Blick könnte man die beiden Protagonisten für eine Art White Stripes mit vertauschten Rollen halten. Steven Ansell sitzt an den Drums, Laura-Mary Carter bedient das Saiteninstrument (hier kein Bass, sondern Gitarre). Das südenglische Duo braucht sich darüber hinaus allerdings keine Sorgen um irgendwelche Vergleiche zu machen; unverkrampft, lässig und cool schießt man einen Ohrwurm nach dem anderen in die sichtlich angetane Menge. Ein paar simple Riffs, unterlegt von treibenden Rhythmen und verfeinert mit abwechselnd männlichem, weiblichen oder zweistimmigem Gesang – Musik kann so einfach sein. Spätestens mit der Hymne I Wish I Was Someone Better verlassen die sonnenbebrillte Frontlady und ihr androgyner Kompagnon dieses Gastspiel als Punktsieger.
Für Furore sorgen an diesem Abend auch The Teenagers. Die aus Paris stammende und in London lebende Formation hat es mit ihrem augenzwinkernd pornohaften Schmacht-Pop innerhalb kürzester Zeit zu hoher Bekanntheit gebracht. Dementsprechend stehen im Zelt die Zeichen auf Partyalarm, als Quentin Delafon – mit hippem Oberlippenschnäuzer, Röhrenjeans und einem 80er-Depeche Mode-Shirt – das Publikum mit landestypischem Akzent und lausbübischem Charme begrüßt. Es dauert nur kurz, bis mit Feeling Better die ersten Mitsingparts für ausgelassene Stimmung in den vorderen Reihen sorgen, welche von Delafon immer wieder mit Körperkontakt beglückt werden. Und der ist den Teenagers-Texten zufolge nun mal ziemlich wichtig. Höhepunkt des Sets ist Homecoming, in dem es um eine Urlaubsaffäre zwischen einem englischen Teen und einer Amerikanerin geht. Dafür stehen mehrere Frauen aus dem Publikum tanzenderweise auf der Bühne und geben Zeilen wie “I fucked my american cunt“ zum Besten. Ein äußerst amüsantes Bild. Und wer die Ironie hinter dem Gebaren aus triebgesteuertem Hedonismus und MySpace-Oberflächlichkeit nicht versteht, ist selbst Schuld.
Schuld ist niemand am Regen. Doch wieso so stark und warum muss er ausgerechnet zum Ende des Sets der Teenagers einsetzen? Also sind wir gezwungen an der überdachten Gemini Stage zu warten und als ob das nicht schlimm genug wäre, beginnen dort auch schon Klee mit ihrer Show. Nach drei Songs haben wir endgültig keine Lust mehr und der Regen ein Einsehen. Er wird schwächer und wir können uns auf den Weg in Richtung Melt! Klub machen. Dieser befindet sich in diesem Jahr in einer alten Lagerhalle, die so weit von den Baggern entfernt ist, dass sie in den letzten Jahren eigentlich immer weit außerhalb des Festivalgeländes gelegen hatte. Hier ist also auch nichts mehr asphaltiert und nach dem gewaltigen Regenguss, verwandelt sich die Erde davor in eine wahre Schlammwüste. Hunderte begehren Einlass, doch der Klub scheint voll und die Security hat Mühe die Meute zu bändigen. Plötzlich kippt der Bauzaun, dann fallen die Leute. Es ist nicht ganz ungefährlich.
Irgendwann haben wir es geschafft. Drinnen liefern The (International) Noise Conspiracy ihre gewohnt gute Rock'n'Roll-Show und das einzige was sich bei diesen Männern von Zeit zu Zeit ändert, ist die Farbe der Uniform. In diesem Sommer Türkis. Bitte sehr. Ansonsten gibt es den üblichen Mix von Smash It Up bis Black Mask und dazu jede Menge Spagatübungen des ehemals “Sexiest Man Of Sweden“ Dennis Lyxzén. Aber vielleicht könnte er mal wieder schreien?
Das übernimmt das vorwiegend britische Publikum dann, als vier junge Männer aus Reading den Melt! Klub entern. Does It Offend You, Yeah? brüllen Let's Make Out und es entsteht zum Breitwandelectro mit Daft Punk-Referenzen eine Stimmung wie auf einem Punkkonzert. Mit dem Unterschied, dass hier Luftmatratzen durch die Gegend fliegen und irgendwie jeder eine Sonnenbrille trägt. We Are Rockstars heißt ja dann auch die Nummer, zu deren Beginn plötzlich fast alle auf dem Boden sitzen und beim ersten “Yeah!“ enthusiastisch in die Höhe springen. Der Rest ist Ekstase.
Runterkommen. Eigentlich gerne schon bei den Editors. Doch der Regen und technische Probleme bei Kate Nash haben den Zeitplan auf der Hauptbühne verzögert. So treibt es die Meute übers Gelände. Auf der Big Wheel Stage unter dem riesigen Bagger, direkt am Seeufer erleben wir den umjubelten Beginn von Modeselektor, um gegen zwei Uhr aber dann doch in Richtung Main Stage zu verschwinden. Dort beginnen die Editors ihr Set mit Smokers Outside The Hospital Doors und im ersten Moment denken wir an Playback. Fast zu perfekt klingt der Bariton von Tom Smith, fast zu klar sind die Gitarren von Chris Urbanowicz. Doch nicht umsonst haben die vier Musiker aus Birmingham alle ein abgeschlossenes Musikstudium. Vor zwei Jahren hat die Band hier noch in der frühen Abendsonne gespielt, heute sind sie Headliner. Nicht zu Unrecht, denn ihre Mischung aus traurigem Moll und treibendem Dur erzeugt unter den riesigen Baggern eine ganz besondere melancholische Stimmung. Während Munich gleiten grüne Laserstrahlen über das Publikum und kurz vor Schluss gibt es den Titeltrack des aktuellen Albums, der sich auch auf die endende Nacht und den anbrechenden Tag übertragen lässt. An End Has A Start.
Zwei Tage Wach
Den Samstag erleben wir als eher trübes Gemisch aus Sonne und leichtem Regen unter unserem Pavillon. Auf dem Weg zu The Notwist schweift der Blick gen Himmel. Alles ist schwarz. Als wir die Hauptbühne erreichen, werden dort schon hektisch die Instrumente abgedeckt und nach hinten geschoben. Sturm setzt ein. Erstes Donnern ist zu hören. Wir rennen. Alle rennen. Panik? Nicht ganz. Doch nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn das Gewitter zwei Stunden später, bei viel vollerem Gelände, losgebrochen wäre. So stehen wir dicht gedrängt unter einem Merchzelt und nach einer weiteren halben Stunde dürfen The Notwist dann doch noch anfangen. Leider verkürzt sich ihre Spielzeit auf etwas weniger als vierzig Minuten, aber diese nutzen die Weilheimer hervorragend. Zwar fallen die neueren Songs wie Where In This World etwas hinter Meisterwerke, wie Pilot und This Room zurück, doch trotzdem schaffen The Notwist es jedes Mal ihre Songs so umzusetzen, dass auch auf einem Festival diese besondere Atmosphäre entstehen kann, die sie so einzigartig macht. Nichtsdestotrotz muss aber auch erwähnt werden, dass der Auftritt von The Notwist in diesem Jahr bei weitem nicht an ihren Konzert an gleicher Stelle vom Vorjahr heran reicht.
Trotzdem ziehen wir erstmal zufrieden über das Gelände. Hinter der Big Wheel Stage ist der Boden nach dem Unwetter mittlerweile so durchgeweicht, dass sich erste Besucher im Schlamm wälzen, während Mathias Kaden hier mit feinsten Minimalsounds hantiert. Nach solchen Aktivitäten steht uns noch lange nicht und unter den gigantischen Industriedinosauriern gibt es ja auch vieles anderes zu entdecken. Neben den vielen Fressbuden und Merchandiseständen im Übrigen auch die langen Schlangen an den Toiletten. Auf dem Gelände ist es nun nämlich tatsächlich bedeutend voller als am Freitag und erstmals lässt sich erahnen was es heißt, wenn die Ferropolis ausverkauft ist.
Entsprechend voll ist es dann auch bei Franz Ferdinand. Fast überraschend wenn man bedenkt, dass die Band seit drei Jahren nichts mehr veröffentlicht hat. Doch für Herbst diesen Jahres ist ja endlich ein neues Album angekündigt und so gibt es dann zwischen den Unmengen an Hits auch die eine oder andere neue Nummer, die allerdings kaum hängen bleiben. Ansonsten mit wird die große Rockstarschiene gefahren. Und wenige können das so schön, wie die Schotten. Sie fragen Do You Want To? und das enthusiastische Publikum fordert Take Me Out. Am Ende heißt es dann “This fire is out of control, I'm going to burn this city!“ und direkt im Anschluss explodiert über der aufgehitzten Masse ein kurzes, aber wunderschönes Feuerwerk.
In der zum Bistro umgebauten Orangerie stärken wir uns kurz mit Kaffee und treffen alte Freunde wieder. Gemeinsam geht es dann weiter zu Róisín Murphy, die auf der Hauptbühne ihr neues Album Overpowered vorstellt. Die ehemalige Moloko-Sängerin ist zum zweiten Mal zu Gast auf dem Melt! Festival und inszeniert sich wieder als wahre Diva. Die Songs von beiden Platten fließen ohne große Pausen ineinander über und so kommt das Publikum kaum zum Luft holen. Bei Nummern, wie Movie Star oder Cry Baby liegt es ihr aber sowieso bedingungslos zu Füßen, denn momentan beherrscht wohl niemand den New Disco-Style so gut, wie die Dame, die damals einen gewissen Mark Brydon mit den Worten “Gefällt dir mein enger Pulli?“ ansprach.
Mr. Oizo ist den meisten Leuten als Schöpfer der gelben Knuddelpuppe Flat Eric bekannt, die seinerzeit zwischen Bürostuhl, Telefon und Computer-Tastatur mit ekstatischen Zuckungen den Flat Beat zelebrierte. Dass der Franzose weit mehr zu bieten hat als einen Hit, wird heute Abend sehr schnell klar. Mit einem beinharten, aggressiven Zweistunden-Killer-Set bringt der Typ, der dort oben unscheinbar mit Kippe im Mund am Plattenteller steht, die rammelvolle Gemini Stage zum Kochen. Es geht stampfend und drückend nach vorne, ohne Firlefanz und Schnickschnack. Das ist erbarmungslos rockender Electro, nicht nur weil Death From Above’s Blood On Our Hands eingebaut wird, als sei es das Natürlichste auf der Welt. Eigentlich wollten wir uns Mr. Oizo als netten Zeitvertreib vor Uffie, Feadz und Boyz Noize anschauen – jetzt schmerzen die Beine.
So überraschend positiv dieser Eindruck war, so ernüchternd fällt der folgende Auftritt der Ed Banger-Schützlinge Uffie & Feadz aus. Vielleicht liegt es aber auch nur daran, dass die reanimierten Eurodance-Recken von Technotronic alle zwanzig Minuten auf der Bühne rumzappeln dürfen, um einen ihrer alten Hits zu kredenzen. Pump Up The Jam oder This Is Beat Is Technotronic sorgen leider nur kurz für Erheiterung, ebenso wie die zwischenzeitliche Kampfansage des Technotronic-Typen an eine wohl aufmüpfige Person aus dem Publikum. Noch einmal, sagt er, und er käme runter, um ihm den Arsch zu versohlen. Keine Ahnung, was der Mensch da unten Böses getan hat, jedenfalls wäre ein Handgemenge um einiges erquicklicher als das langweilige Schauspiel des bemüht energetisch auftretenden Dance-Duos. Da muss sogar Uffie lachen, die selbst nicht unbedingt ihren besten Tag erwischt hat. Der Funke will so recht nicht überspringen. Über Gassenhauer wie Ready To Uff, Hot Chick oder den Justice-Knaller The Party freut man sich natürlich trotzdem. Feadz, der mit seinem DJ-Set die meiste Zeit eingeräumt bekommt, bringt in der letzten halben Stunde müde Knochen wieder zum Tanzen und stimmt ein auf die unvermeidliche Apokalypse, die von 5 Uhr bis 7 Uhr morgens in Form von Boys Noize über die Anwesenden hereinbrechen soll.
Das Soloprojekt von Alexander Ridha, vormals erfolgreich als eine Hälfte von Kid Alex, zieht als Hauptact des (anbrechenden) Tages alle Aufmerksamkeit auf sich. Man spürt, dass viele Besucher nur auf diesen Auftritt gewartet haben. Wir sammeln unsere letzte Kraft und atmen noch einmal tief durch. Die Euphorie ist groß, als die ersten Beats dreckig und brutal aus den Boxen röhren. Das ist Boys Noize. Der einschmeichelnde Pop-Faktor vergangener Kid Alex-Tage ist passé, hier regiert entfesselter Druck. Die Meute geht ab, die Holzplanken auf dem Boden gehen mit. Wie butterweiches Trampolintuch fügen sich die Bretter den Bewegungen der unzähligen Beine, die dem Sonnenaufgang entgegen tanzen. Ridha genießt die ihm entgegengebrachte Begeisterung sichtlich. Beim Feist-Remix My Moon My Man spielt er mit der Vorfreude auf den einsetzenden Bass; verzögert, hält hin, immer kurz davor... dann dreht er ihn rein und alle rasten aus. Nach dem Set taucht er ab hinters Pult. Zugabe-Rufe und Applaus schwellen an. Er wartet ab, streckt erst seine Hand hoch, dann eine Platte. Sweet Dreams holt uns langsam runter. Eine weitere Zugabe wird gnadenlos durch einsetzende Umbaumusik verhindert. Boys Noize hätte noch weiter gemacht. Wir auch.
Drei Tage Wach
Nach dieser angenehm durchtanzten Nacht und einem eher unangenehm durchschlafenen Tag bricht der finale Melt!-Abend an. Die letzten Kräfte werden mobilisiert, die unschönen Augenschatten hinter dunklen Wayfarer-Sonnenbrillen versteckt. Heute reicht die Energie bei vielen nur noch für die Main Stage und so tummeln sich dort die meisten vom Winde und Regen der letzten Tage derangierten Festivalbesucher und genießen den kraftvollen Auftritt der Battles aus New York. Das Kollektiv um den ehemaligen Helmet-Drummer John Stanier bietet musikalisch genau das, was man jetzt braucht um in Fahrt zu kommen: einen ungewöhnlichen Mix aus Mathcore und Post-Rock. Hierbei ist das Schlagzeug besonders dominant, so dass man die meist fehlenden Vocals überhaupt nicht vermisst, sondern sich sorglos den treibend-verqueren Songverläufen hingeben kann.
Nach diesem Aufwärmprogramm sind wir bereit, die heimlichen Lieblinge des Festivals zu empfangen: Hot Chip aus England betreten die Bühne und knüpfen nahtlos an die geschaffene Energie der Battles an. Schon zum dritten Mal beglücken Alexis Taylor, Joe Goddard & Co. das Melt! mit ihren unkonventionellen Gute-Laune-Songs, die sich zwischen Rock, New Wave, R`n`B und Dancefloor-Pop bei allem bedienen, was nicht bei Drei auf den Bäumen ist. Und spätestens bei Ready For The Floor, sind die Strapazen der letzten Nächte vergessen und man kann ein zufriedenes Lächeln auf den Gesichtern der tanzenden Menge ausmachen. Hot Chip liefern ein wunderbares Konzert und werden gebührend verabschiedet.
Dann beginnt hektisches Treiben auf der Bühne, während es davor langsam ruhig wird. Eine seltsame Spannung baut sich auf, da nun der von vielen sehnlichst erwartete erste Deutschlandauftritt von Björk seit drei Jahren ansteht. Emsige Bühnenbauer arrangieren fernöstlich anmutende Fahnen in unterschiedlichen Größen auf der Main Stage. Diese sind meist in grünen oder roten Farben gehalten und zeigen unterschiedliche Tiermotive von Kröte bis Salamander. Es wird still und die Vorfreude unter den Besuchern unerträglich. Plötzlich ertönen Bläserklänge und ein zehnköpfiges Orchester betritt schwungvoll die Bühne. Kurz danach erscheint die zarte, in ein regenbogenfarbenes, weitfließendes Gewand gehüllte Björk und erfüllt mit ihrer fragilen und berührenden Stimme die Herzen und zugleich auch die Erwartungen der Festivalbesucher. Nach jedem Song ertönt ein putziges “Dankeschön“ in allerliebst isländischem Akzent. Björks Stimme ist glasklar zu hören und perfekt auf die Instrumentierung des Blasorchesters und den Sound ihrer Band abgestimmt. Auch optisch wird einiges – jedoch nie zu viel – geboten. Immer bleibt der Fokus auf der Musik. Nach eineinhalbstündiger Show verlässt Björk mitsamt Band die Bühne. Nach 5-minütigem Bitten wird dem geduldig ausdauernden Publikum schließlich eine Zugabe gewährt. Nachdem Björk brav ihre Mitmusiker vorgestellt hat, gibt es noch zwei weitere, wundervolle Songs inklusive Lichtshow und Papierschnipselregen.
Mit dem umjubelten Auftritt von Björk endet das größte Melt! Festival seiner Geschichte, doch angesichts der nunmehr völlig ausgeschöpften Besucherkapazitäten sollte für die Veranstalter klar sein, dass das Melt! in Zukunft nur noch an Qualität wachsen darf. Gerade an diesem Punkt gibt es jedoch dieses Mal leider einiges zu bemängeln. So bleibt nach den Erfahrungen der letzten Jahre völlig unbegreiflich, wieso man zwar mehr Tickets verkauft, aber dann mit weniger Toiletten kalkuliert und zu Stoßzeiten mit dem Bändchentausch nicht fertig wird. Außerdem hat das Gelände mit der Vergrößerung der Hauptbühne und der Auslagerung von Gemini Stage und Melt! Klub auch einiges an Flair eingebüßt. Gerade kleinere Bands müssen sich auf der Main Stage ziemlich alleine vorkommen, wenn die riesige Arena nicht gefüllt ist. Auch an den Punkten sanitäre Anlagen, Security und Shuttle-Busse könnte noch einiges optimiert werden.
Trotz aller Kritik muss aber auch gesagt sein, dass das Melt! nach wie vor eines der sympathischsten Festivals in Deutschland bleibt. Denn nirgendwo sonst wird sich dann eben doch mit solcher Liebe zum Detail um die Besucher gekümmert, nirgendwo sonst wird soviel Wert auf Grafik, Design und Atmosphäre gelegt und auf keinem anderen Festival spielt eine derart weit gefächerte und doch ausgewogene Mischung an Bands. Von der atemberaubenden Kulisse der Location ganz zu schweigen.
Deshalb: See you at Melt! Festival 2009. Mit viel Sonne. Wir können es kaum erwarten.
Text: Christian Huxhold, Steffen Eisentraut, Mara Millack Bilder: Christian Huxhold
Drei Tage wach fiel schonmal im Vorfeld flach, nachdem zwei von uns ihre Karten schon Anfang Januar gekauft hatten und der Rest sich auch für zwei statt drei Tage entschied, nebenbei hatte das aber auch trotz Kasten Mate im Kofferraum niemand vor, verlässlich trafen wir uns immer morgens auf dem Weg zurück zu den Zelten wieder. Und somit zweites Stichwort: Vier Leute, vier Zelte, grandiose Planung und dann schön ums Auto rum gebaut, nach uns kommt nur noch ein Feld, wir laufen trotzdem zum Gelände, verpeilen erstmal das mit dem Bändchenumtausch und sehen dann als erste Band Fotos. Geht auch von noch oben am Bagger stehend irgendwie gar nicht, wer kam eigentlich damals bei der ersten Platte auf die Idee, diese Band als die deutschen Hot Hot Heat zu bezeichnen? Zwar beschwingter, aber dennoch recht uninteressanter Indiepop mit deutschen Texten und Offbeat-Schlagzeug. Selbiges zieht sich auch schön durch die nächsten Eindrücke. Seien es Lightspeed Champion oder Dúné, sowie später dann Late Of The Pier oder The Teenagers. Einigermaßen Ratlosigkeit.
Als Ersatz dazu lande ich erstmal bei Tobias Thomas und trockenem Minimalkram an der Big Wheel Stage. Da ist auch die 3 Tage wach-Fraktion schon am Cut, wir stolpern weiter auf der Suche nach dem Melt Klub, dessen Platzierung auf dem Gelände uns doch Rätsel aufgibt. Ladyhawke spielen noch, deutlich 80s-Wave-lastig, durchaus nach vorne, kapieren tu ich das dennoch eher weniger. Kurz darauf, erstes Highlight Turbostaat, was auch immer dahinter steckte, dass die Band eingeladen wurde - gute Sache. Und auch wenn dann der Sound in dieser hohen Halle komplett auseinanderfliegt und eigentlich ein einziges Mittenfestival ist. Und irgendwie an Youtube-Videos erinnert. Teilweise wirkte auch die Band so, als würde sie das stören, reißen aber größtenteils ein enorm engagiertes und spielfreudiges Set runter. Vor allem Vormann Leiss-Lieder plus weniges altes. Punkrock inklusive Quatschansagen. Publikum nervt allerdings, hier erstes Bemerken dessen. Ich laufe so rum zwischen Adam Greens Zirkusmusik-Tralala und Blackmail, die ich so um 2001 rum mal ziemlich gut fand, aber inzwischen eher profane Rockposenshow mit viel Nebel und Gegenlicht und den wie üblich stoisch bratenden Ebelhäuser-Brüdern. Naja. Im Regen, der pünktlich einsetzt als ich da raus gehe, versuche ich zur nächsten überdachten Fläche zu flüchten, ende aber nur bei der Wahl zwischen wieder nass werden oder Klee sehen und entscheide mich sehr schnell für ersteres. Die nächste halbe Stunde verbringe ich dann rauchend in der Tür zum Klo bzw. vor dem Handfön da, um Teile meiner Sachen zumindest halbwegs trocken zu bekommen.
Weiter geht's. Zoot Woman wissen zu überzeugen und tanzen sorgt ja auch für beschleunigten Trocknungsprozess. Supermayer überzeugt noch mehr mit Melodicaspielereien und ausgefuchsten Feinheiten zur Vierviertel-Bassdrum, einziger Nachteil: große Teile des Bodens vor der Big Wheel Stage sind Wiese. Respektive waren. Immerhin: Schuhe halten das noch ganz gut aus. Im Vorbeigehen bekomme ich Kate Nash ihren Hit mit (ich meine Foundations, ich kenne eh nicht mehr) und plötzlich ist die komplette Menschenmenge vor dem Melt Klub weg, die mich vorher daran hinderte sowohl Does It Offend You, Yeah? wie auch die (International) Noise Conspiracy kritisch begutachten zu können. Egal. Nach Why? kann mir in der Nacht nichts mehr was. Das Verpassen von Gui Boratto beispielsweise. Oder dass Modeselektor eher so semi sind. Die vier Kalifornier liefern eine Stunde Grandesse mit Kopfnicken, Mitshouten und Konfetti durch den Raum werfen. Ein multiinstrumentaler Knaller zwischen Anticon-PostHop, Indiegebastel und Folk-Artigem voller Hits. Lächelnd springen wir um die Pfützen herum und versuchen Modeselektor schließlich mehr abzugewinnen als etwas hüpfendes Mitgehen. Passiert leider nicht so wirklich. Dafür nacheinander: Ellen Alien und Tomas Andersson, tanzen in die Morgendämmerung hinein, während auf den sporadischen Ausflügen in die zentraleren Bereiche des Festivalgeländes hinein weder Robyn (an sich schon absolut nicht mein Tee) noch Booka Shade (wann haben die eigentlich aufgehört Minimal zu machen und angefangen sich auf eher so Großraum-Geprolle zu verlegen?) überzeugen können. Komplett verpasst und ich hab teilweise keine Ahnung, warum: Alter Ego, Miss Kittin, Editors, Deus und Die Türen. Komplett verpasst und ich weiß ganz genau, warum: Alexander Marcus. Last Exit morgens um 5: Gus Gus, fängt gut großflächenelektronisch an und wird dann schnell seltsam soulbehaftet, nach einem letzten Verbraten des Wochenendwitzes, Agnostic Front zu singen, laufen wir nochmal schön am See lang und enden Zähne putzend im Feld. Begeisternde Ruhe.
Kurzer Schlaf wird wie gewohnt von Morgensonne beendet, dazu überzeugen die Herren im Zelt neben uns dadurch, eine Menge Quark schnell nacheinander erzählen zu können und beim Duschen werde ich irgendwann einfach vorgewunken. Währenddessen regnet es, aber was macht das schon. Unabhängig von einander machen wir uns später nach und nach auf den Weg. Während Peter Licht gibt es zuerst Regen, dann bejubeltes Aufbrechen der Wolkendecke, eine charmante Band mit Hits und entspannter Nachmittagsfreude und ein dankbares Publikum mit Schirmen und derartigem. Zwischendrin erlebe ich noch wie Turbostaat-Marten im Intro-Podiumsraum über dem Restaurant grandios Linus Volkmann und das Publikum im Raten von Deutschpunk-Liedern schlägt. Es folgt: Überflüssiges in Form des Wombats-Ersatz, dessen Name mir immer noch reichlich schleierhaft ist, hm ja. (Unsere Unterhaltung, in der häufiger die Phrase "From the east coast to the west coast, gotta gotta gotta go! Oi! Oi! Oi!" lachend vorkam, soll hier kurz erwähnt werden, die Schlüsse kann ziehen, wer will). Dann: erneuter Versuch einer Entscheidungsfindung Superpunk oder Fujiya & Miyagi, Ergebnis durch gewisse Verzögerungsmomente: mehr von den Ersteren, die mit ihrer ganz eigenen, souligen Punkversion und viel Humor am Start sind, viel Neues und einige alte Klassiker bringen für ein Publikum, das dankbare Freude zeigt und mitsingt. Prima. Zwischendrin und anschließend kurz zweitere sehen, Elektronik plus ansatzweise nerdiger Indiekram, charmant tanzbar, leider zu kurz.
Mit hereinbrechendem Abend kommt dann erneuter Regen, infolgedessen ich mich in Anbetracht viel zu durchnässter Sachen lieber auf den Weg zum Zelt mache. Zurück bekomme ich von Notwist immerhin noch den fulminanten Pilot-Abschluss mit. Perfekt verplantes Timing. Nebenan dann Operator Please, drei Jungs, zwei Frauen, aufgedrehter Powerpop irgendwie in Richtung Gossip mit auf Dauer etwas nerviger Sängerin. Bei den folgenden Jape stehe ich hinter der Bühne im Sand und wackel etwas hin und her zu mehr straightem als vertracktem Sampling-Elektropop mit Folk-Anleihen, 20 Minuten reichen dann doch auch und ein erneuter Seewegspaziergang steht an. Aus Gründen. Die Stereo MCs und Franz Ferdinand werde ich so verpassen (ach naja), ebenso Miss Platnum (vielleicht schade), ebenso wie vorher schon Navel und Rummelsnuff (gut so). Auffallend: Ständig viel zu viele Leute auf den Wegen und im Weg, viel Neon und ähnlich nerviges, viele Deppen, "Indie-Ballermann" trifft das schon durchaus gut. Meine Welt ist das Melt nicht wirklich, okay, auch letztes Jahr schon, aber dieses jahr nochmal enorm verstärkt.
Folgend die vielleicht größte Überraschung des Wochenendes. Mit beinahe 90minütiger Verspätung laufen sichtlich gut gelaunt Erlend Øye und seine drei Mitmusiker auf die Bühne. Dann gibt es gut eine Stunde zurückgelehnt lässigen bis fulminant nach vorne gehenden Indiepop in famoser Verspieltheit mit Publikumsinvolvierung, springen, tanzen und lachenden Gesichtern. Überraschend vor allem deswegen, weil mich bislang The Whitest Boy Alive auf Platte größtenteils eher ziemlich gelangweilt hatten. Aber hier, so und jetzt reißt es mich quasi um und als ich kurz vor Ende quer übers Gelände zur Big Wheel Stage eile, um noch etwas von Efdemin mitzubekommen, beginnt das Feuerwerk an einer für mich völlig bedeutungslosen Stelle. Aber macht ja nichts, Efdemin schickt großartig minimalistisches Housegebastel in die Nacht und als schließlich auch der Bagger direkt hinter der Technobühne ins Feuerwerk involviert wird, jubeln die Tanzenden laut auf. Wunderbar. Lachend und Kaffee trinkend stürze ich mich euphorisch anschließend in die Menge bei Mr. Oizo. Was der gute Mann da zusammengebastelt abliefert ist über weite Strecken wunderbar mitreißendes Geballer, knarzend, drückend, mitunter zwar einfach nur banane, aber trotzdem noch einmal prima Tanzfreude. Aus der Entfernung von den Treppen am Rand des Hauptbühnenareals verfolge ich dann noch Roisín Murphys engagiert-flirrende Disco-Version in Lichtgeflacker und Jubel der tanzenden Masse und Goldie danach. 90s Drum'n'Bass der besten Ausprägung und ich werde für ein paar Augenblicke nochmal erst spontan so etwa 16 und dann durchaus müde. Also spar ich mir Uffie, Feadz und Technotronic und bis Boys Noize (noch ein Witz mit Oi! gefällig? Haha..) hätte ich es vermutlich eh nicht geschafft (gut, ich wär auch nicht hin, vermutlich), leider eben so auch nicht Steve Bug. Da schlief ich dann schon und kurz nach eins Mittag am Sonntag stand ich schon wieder in Berlin.